Am Mittwoch, den 27. Januar 2021, haben wir im Deutschen Bundestag eine Gedenkstunde anlässlich des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus abgehalten. Dieser Gedenktag bezieht sich als Jahrestag auf den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung der Vernichtungslager von Auschwitz. Das Konzentrations- und Vernichtungslager bei dem schätzungsweise mehr als 1,1 Millionen Menschen umgebracht wurden, ist ein Sinnbild für den Terror und Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes.

Jährlich veranstaltet der Bundestag am 27. Januar oder in zeitlicher Nähe daher eine Gedenkstunde.

Eröffnet wurde die Gedenkfeier mit einer Ansprache unseres Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Schäuble. In seiner Rede verwies Herr Schäuble darauf, dass jüdisches Leben in Deutschland 1700 Jahre existiere. Er gedachte nicht nur den Verstorbenen, sondern auch den Nachkommen und Überlebenden, die bis heute mit diesem schweren Schicksal konfrontiert sind.

Herr Dr. Schäuble sagte: „Die Geschichte ist gegenwärtig für die Nachfahren der Überlebenden und für alle anderen Deutschen. Sie geht uns alle an. […] Auch bei uns zeigt sich Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit wieder offen, hemmungslos, auch gewaltbereit. […] Machen wir uns bewusst: Es steht das Selbstverständnis unseres Landes auf dem Spiel.“

Zum Ende der Rede verwies der Bundestagspräsident auf die Übernahme der Patenschaft der Sulzbacher Torarolle aus dem Jahr 1793, die im Andachtsraum des Deutschen Bundestages nach einer aufwendigen Restaurierung fertiggestellt wurde. Er beendete seine Rede mit Bezug auf die Torarolle:
„Wir verpflichten uns damit [mit der Patenschaft für die Sulzbacher Torarolle] jüdisches Leben vor Angriffen zu schützen, die Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoah an die folgende Generation weiterzugeben und die Erinnerung an das deutsch-jüdische Leben, das damals zerstört wurde. Und zugleich bekennen wir uns zu einer Zukunft, in der Juden in Deutschland ihr Jüdischsein offen, sicher und sichtbar in unserer Mitte leben, als selbstverständlicher Teil unseres gemeinsamen vielfältigen Lebens.“

In diesem Jahr sprach die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und Holocaust-Überlebende, Charlotte Knobloch, im Plenum. Sie erzählte aus ihrer Kindheit, dem Schicksal ihrer Familie und ihren Erfahrungen. Es waren finstere Zeiten. Und trotz der Erlebnisse entschied sich Frau Knobloch zu bleiben und sich zu engagieren. Das jüdische Leben wurde nach dem Schrecken des nationalsozialistischen Regimes wiederhergestellt.

„In unserer Gesellschaft ist das pluralistische, vitale Judentum wieder eine anerkannte Kraft. […] Deutschland ist für Juden wieder eine gute – mit Hoffnung verbundene – Heimat. […] Wir dürfen stolz sein auf unsere Bundesrepublik,  aber wir müssen sie wehrhaft verteidigen. Nicht einen Tag dürfen wir vergessen, wie zerbrechlich und kostbare unsere Errungenschaften der letzten 76 Jahre sind.“, sagte Frau Knobloch. In diesem Zusammenhang thematisierte sie auch das Problem des Antisemitismus. Dort wo Antisemitismus Platz finde, könne jede Form von Hass, Homophobie, Frauenfeindlichkeit und Menschenverachtung stattfinden. Der Kampf gegen Hass und Antisemitismus sei daher ein Einsatz für Demokratie, Recht, Einigkeit und Freiheit.

Die letzte und damit zugleich abschließende Rede hielt Frau Marina Weisband. Sie sprach als Nachfahrin von Shoah-Überlebenden. Ihr Großvater hatte den Holocaust überlebt. Die in der Ukraine geborene Publizistin und Politikerin, die 1993 mit ihrer Familie nach Deutschland kam, berichtete über Identitätssuche und über den Konflikt zwischen einem Zugehörigkeitsgefühl zur deutschen Gesellschaft und gleichzeitig dem Empfinden des Fremdseins in einer Gesellschaft, der man sich zugehörig fühlt. „Es ist immer noch zu gefährlich, sichtbar zu sein.“, sagte Weisband. Sie plädierte dafür keinen Schlussstrich zu ziehen, sondern: „Wir [müssen] das Gedenken dennoch irgendwie weitertragen und lebendig halten. […] Wir sind jene, die alle aus der Vergangenheit gezogene Lehren in die Zukunft überführen müssen. Wir müssen einen Weg finden, das Gedenken der Shoah weiterzutragen, ohne uns selbst [bezogene auf jüdische Mitmenschen] zu einem Mahnmal zu reduzieren. Wir sind diejenigen, die unter den Portraits unserer Großeltern und Urgroßeltern eine neue Gesellschaft bauen müssen – eine in der wir vielleicht irgendwann eine jüdische Kultur gelebt werden kann und mit einer schlichten Selbstverständlichkeit behandelt wird […]“.