Am Donnerstag, den 27. Januar 2022, haben wir im Deutschen Bundestag eine Gedenkstunde anlässlich des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus abgehalten. Dieser Gedenktag bezieht sich als Jahrestag auf den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung der Vernichtungslager von Auschwitz. Das Konzentrations- und Vernichtungslager bei dem schätzungsweise mehr als 1,1 Millionen Menschen umgebracht wurden, ist ein Sinnbild für den Terror und Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes.

Jährlich veranstaltet der Bundestag am 27. Januar oder in zeitlicher Nähe daher eine Gedenkstunde. Seit 1996 wird dieser Tag in der Bundesrepublik als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Die neuen Regierungsparteien haben in ihrem Koalitionsvertrag vom Dezember 2021 zudem vereinbart, den Gedenktag aufwerten zu wollen. Darüber hinaus wurde der 27. Januar im Jahr 2005 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust erklärt.

Eröffnet wurde die Gedenkfeier mit einer Ansprache der Bundestagspräsidentin, Bärbel Bas. In ihrer Rede verwies Frau Bas darauf, dass wir an diesem Tag allen Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen gedenken. Der 80. Jahrestag der Wannseekonferenz sei ein

„Tag der Scham für das, was frühere Generationen Deutscher getan haben. Scham, die die Täter nie gezeigt haben. Viel zu Wenige mussten sich vor Gericht verantworten. Viel zu Viele sind mit Strafen davongekommen, die einer Verhöhnung gleichkamen – auch Teilnehmer der Wannseekonferenz.“

In ihrer Rede hieß sie auch besonders die Gäste der Gedenkstunde, Frau Inge Auerbacher sowie Mickey Levy, den Präsidenten des israelischen Parlaments, der Knesset, willkommen. Für die Verfassungsorgane der Bundesrepublik nahmen an der Gedenkstunde neben der gastgebenden Bundestagspräsidentin Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesratspräsident Bodo Ramelow, Bundeskanzler Olaf Scholz und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Stephan Harbarth, teil.

Die Gedenkstunde wurde durch besondere musikalische Werke begleitet: Zwei Stücke von Komponisten, die in Theresienstadt interniert waren – Hans Krása und Lena Stein-Schneider sowie zwei Lieder des jüdischen Widerstandes gegen die nationalsozialistische Besatzungsherrschaft – von Shmerke Kaczerginski und von Hirsch Glik. Die Lieder werden von dem renommierten Kantor Yoed Sorek gesungen, die Instrumentalstücke werden von Musikern der Prager Staatsoper im Rahmen des Kulturprojekts „Musica non grata“ (www.musicanongrata.cz) aufgeführt.

Zum Ende hat Frau Bas sehr richtige Worte unter anderem in Anlehnung an Carlo Schmid gewählt:

„Wir wissen aus Erfahrung: Freie Gesellschaften bleiben aus dem Inneren heraus verwundbar. Deshalb braucht es den Mut zur Intoleranz denen gegenüber, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen. […] Unsere freiheitliche Demokratie muss sich wappnen gegenüber jenen, die die Demokratie beschwören, aber nur ihre eigene Freiheit meinen; die Toleranz für sich einfordern, aber für Pluralismus nur Verachtung übrig haben; die Lügen verbreiten, um zu verunsichern; die zu Hass und Gewalt anstacheln, um sich im Nachhinein mit empörter Geste zu distanzieren. Die Mehrheit in diesem Land hat dafür nichts übrig. Sie lässt sich nicht zum Hass verführen. Sie wählt und streitet demokratisch – und das gerne leidenschaftlich, auch erbitternd. Gegenüber den Anderen brauchen wir mehr Mut zur Intoleranz und den entschlossenen Einsatz aller Mittel, die die wehrhafte Demokratie kennt. Wenn Rechtsextremisten, Geschichtsrevisionisten und Völkisch-Nationale Wahlerfolge feiern, dann ist das kein Alarmzeichen, dann ist es allerhöchste Zeit zu handeln.“

In einer ergreifenden Rede hat die Holocaust-Überlebende Dr. h. c. Inge Auerbacher die schrecklichen Ereignisse ihrer Kindheitsjahre im nationalsozialistischen Deutschland geschildert. Ihre Rede können Sie von der nachfolgenden Webseite des Deutschen Bundestages abrufen: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw04-gedenkstunde-rede-auerbacher-879226.

„Die grauenhafte Zeit des Schreckens und Menschenhasses“, die sie geschildert hat, beinhaltet unvorstellbares Leid für Frau Auerbacher und ihre Familie. Neben der zunehmenden alltäglichen Diskriminierung, die sie und ihre Familie in dieser schrecklichen Zeit erleben musste, schilderte Frau Auerbach auch, dass beispielsweise ihr Vater und Großvater zwischenzeitlich im Konzentrationslager Dachau untergebracht waren. Dabei erzählten sie von Folter und Misshandlungen. Später mussten Frau Auerbachs Eltern Zwangsarbeit in einer Fabrik in Göppingen leisten.

Sie beschreibt anschließend ihre Deportation, die insbesondere für ein siebenjähriges Kind nicht nur unbegreiflich, sondern unfassbar unmenschlich gewesen sein muss. Sie beschreibt den Alltag im Konzentrationslager Theresienstadt wie folgt:

„Ich konnte glücklicherweise mit meinen Eltern im Quartier der Kriegsversehrten bleiben. Wir schliefen auf Strohsäcken eng zusammengepfercht auf zwei oder dreistöckigen Pritschen. […] Das ganze Leben drehte sich um Essen. Es gab nur Latrinen, die weit weg waren. Wenige Male bekamen wir Erlaubnis, uns zu duschen. Unser Spielplatz war ein faulriechender Abfallhaufen. […] Immer wieder gab es Epidemien wegen des Mangels an hygienischen Einrichtungen und weil wir so zusammengepfercht leben mussten. Typhus war eine große Gefahr. Wir waren sehr von Ratten, Mäusen, Föehen, Läusen, und Wanzen geplagt. Immer wieder wurden Leute abtransportiert – meistens nach Auschwitz. […] Wie ein Wunder sind wir zurückgeblieben. […] Am 8. Mai 1945 sind wir endlich von unserem Elend durch die Rote Armee befreit worden. Von 140.000 Personen, die nach Theresienstadt deportiert wurden, sind 33.000 dort gestorben und 88.000 überwiegend in Auschwitz oder anderen Lagern ermordet worden. Wir waren 15.000 Kinder und nur wenige davon sind am Leben geblieben; darunter wie ein Wunder bin auch ich.“

Sie beschreibt dann Ihre Migration in die USA und ihre Tuberkulose-Erkrankung als Folge des Aufenthalts im Konzentrationslager. Die Zahlen können das Leid nicht beschreiben, aber zeigen die schweren Nachwirkungen der Verbrechen, die sie – neben Stigmatisierung, dem Verlust eines Teils ihrer Familie und Heimat – vier zusätzliche Jahre schwerwiegender gesundheitlicher Folgen gekostet haben.

Anschließend ergriff der Präsident des israelischen Parlaments, Mickey Levy, das Wort. Er stattete Deutschland einen offiziellen Besuch vom 24. Januar bis 28. Januar 2022 ab. In seiner Rede dankte er zunächst Angela Merkel, die sich „unermüdlich für die Beziehungen zwischen unseren Ländern eingesetzt“ habe. Der Staat Israel verlasse sich auf Merkels Nachfolger Olaf Scholz und wisse, dass er diese langjährige Tradition fortsetzen werde. Es gelte, auf die Erinnerung zurückzugreifen, „um deren Weiterbestehen zum Wohl der menschlichen Ewigkeit zu garantieren“.

Herr Levy dankte auch Inge Auerbacher dafür, dass sie es geschafft habe, „das Unfassbare zu greifbarer Erinnerung zu machen“. 80 Jahre und sieben Tage seit der Wannseekonferenz seien „Nichts aus historischer Sicht“, reichten nicht, um alle Wunden zu heilen. Viele trügen noch Wunden, die nicht verheilt sind und für die es keine Heilung gibt.  Die ewig schlimme Warnung des Holocausts der europäischen Juden laute „Nie wieder“, betonte Levy unter Beifall. Aus der Erinnerung müsse aber auch eine Vision geschaffen werden auf eine Zukunft, die sich „auf gemeinsame Werte und Träume stützt“, eine Zukunft, die „auf den Werten der Demokratie, der Freiheit und Toleranz basiert, Werte, die Israel und Deutschland teilen“.

Levy schloss mit einem Ausschnitt aus dem Kaddisch-Gebet für Israel, zu dem sich alle Anwesenden von den Plätzen erhoben. Dieser Gedenktag ist und bleibt als Mahnung wichtig. Die klare Botschaft heißt: Nie wieder!