Offener Brief
Sehr geehrter Herr Minister Albrecht,
als direkt gewählte Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises Flensburg-Schleswig schließe ich mich der Forderung der Regionsgemeinden an Sie an, von der geplanten Deponierung freigemessener Abfälle aus dem Rückbau kerntechnischer Anlagen auf dem Deponiestandort Harrislee Abstand zu nehmen. Aus folgenden Gründen:
- Vergleichbar den Darstellungen des Baden-Württembergischen Umweltministeriums versucht Ihr Haus in mehreren mir vorliegenden Schreiben hinsichtlich der zu deponierenden Stoffe (z.B. aus Nebengebäuden) zu beschwichtigen. Dieses Material müsste laut Kreislaufwirtschaftsgesetz eigentlich recycelt werden, darf es aber aufgrund seiner Verstrahlung nicht. Die zu kritisierende Entlassung solchen Materials aus dem Atomrecht erfolgt über den Verwaltungsakt der „Freigabe“ in das Kreislaufwirtschaftsrecht. Auf diese Weise wird das Material aus der Atomaufsicht entlassen. Die finanzielle und wirtschaftliche Rechtfertigung für diese Vorgehensweise ist nicht nachzuvollziehen.
- Es ist nicht auszuschließen, dass auch Betonreste aus dem Kontrollbereich des AKW – eventuell sogar direkt aus dem Reaktorumfeld – eingelagert werden, die nachweislich radioaktiver Aktivierung unterliegen. Ein Beispiel hierfür ist die Abschirmung des Reaktordruckbehälters aus dem Atomkraftwerk Obrigheim auf der Deponie in Buchen1. Ein weiteres Beispiel ist die jüngste Abfüll-Panne im AKW Brunsbüttel, bei dem Abfälle als Metalle deklariert wurden2. Wäre der Fehler nicht entdeckt worden, hätte es laut Reaktoraufsicht bei der Wiederverwertung der Abfälle zu einer vermeidbaren Strahlenbelastung kommen können.
- Bislang konnte davon ausgegangen werden, dass die großen Massen zur Deponierung aus der „Herausgabe“ und der „uneingeschränkten Freigabe“ auf Deponien gelagert werden sollen. Dass also der Anteil der Müllchargen, die aufgrund signifikanter Radioaktivitätswerte deponiert werden sollen, eher die kleinere Menge ist. Entsprechend haben sich auch der frühere Umweltminister Robert Habeck auf der MELUND-Veranstaltung vor vier Jahren und seine Atomaufsicht in der Harrisleer Holmberghalle geäußert. Heute stellt sich die Realität so dar, dass die AKW-Betreiber den weitaus größten Anteil aus der „spezifischen Freigabe“ mit entsprechender radioaktiver Belastung verbringen wollen.
- Der Beschluss des Landtags vom 8. Mai 2020 rechtfertigt eine Verbringung des AKW-Mülls auf Deponien in Schleswig-Holstein auch mit dem Mittel der Zwangszuweisung. Eine zwangsweise Zuweisung von freigemessenen Abfällen widerspricht aber dem Geist der zuvor in der interdisziplinären Arbeitsgruppe praktizierten transparenten Zusammenarbeit.
- In den bisherigen Antwortschreiben an MdL Johannes Callsen und an mich3 betont Ihr Haus, dass „mit gesundheitlichen Risiken im Umfeld von Deponien wegen der Ablagerung freigegebener Abfälle in keiner Weise zu rechnen ist.“ Risiken aus dem 10 µSv-Konzept lassen sich allenfalls abschätzen, aber nicht messen. So erkannte der Vorstand der Bundesärztekammer4 an, dass das 10 µSv-Konzept bei freigegebenen Abfällen aus dem Rückbau von Kernkraftwerken das mögliche Risiko „auf ein vernachlässigbares Niveau“ senkt. Das heißt, es bleibt ein tatsächliches Niveau bestehen. Die INWORKS und die KIKK- Studie zeigen, dass es klar nachweisbare gesundheitliche Risiken im Niedrigdosisbereich gibt. Da es keine Schwelle der Unschädlichkeit gibt, bedeutet dies, dass eine gewisse Zahl von Erkrankungen und Todesfällen verursacht wird. Ein Konzept aber, das darauf aufbaut, eine bestimmte Zahl von Erkrankungen und Todesfälle hinzunehmen, kann nicht akzeptiert werden.
- Entscheidender Unterschied zu anderen potentiellen Standorten ist die Grenznähe des Standortes Harrislee. Auf dänischer Seite beobachtet man die Entscheidungsfindung des Landes seit mindestens zwei Jahren aufmerksam. Die von dort vorgetragenen Bedenken, wenn man sie denn angehört hat, wurden jedoch im Ergebnis offensichtlich ignoriert, weil Ihr Haus mit der Unbedenklichkeit der Abfälle aus strahlenschutzrechtlicher Sicht argumentiert und die Meinung aus dem Königreich für entbehrlich hält. So geht man nicht mit Nachbarn um, zu denen man ein gutes Verhältnis zu pflegen versucht. Besser wäre es, wenn Sie durch einen Verzicht auf die Deponierung in Harrislee auf die dänischen Umlandgemeinden zugingen und damit zeigen würden, dass Sie die Sorgen, die auch auf dänischer Seite bestehen, achten und ernstnehmen.
Sehr geehrter Herr Minister,
mir geht es in diesem Schreiben nicht darum, die Ablagerung in Harrislee nach dem Motto „not in my backyard“ zu verhindern. Wir stehen heute vor den Konsequenzen der Atomnutzung und müssen deshalb Orte finden, wo die Abfälle gelagert werden können. Ich sehe aber nicht ein, dass diese Abfälle nicht bei den Kernkraftwerken selbst oder in entsprechenden Bunkern gelagert werden. Die Gemeindevertretungen von Harrislee und Handewitt sowie dem dänischen Apenrade und der Flensburger Rat haben bereits über Beschlüsse und Resolutionen deutlich gemacht, dass sie die Deponierung der Abfälle aus kerntechnischen Anlagen ablehnen. Mir geht es mit diesem Scheiben darum, an Ihr „grünes Herz“ aber auch an Ihre Verantwortung als Minister zu appellieren: So lange auch nur der geringste Zweifel daran besteht, dass die freigegebenen Abfälle nicht frei von gesundheitlichen Risiken sind, muss auf die Deponierung in Harrislee oder anderswo verzichtet werden.
Ich bitte Sie, die von mir genannten Argumente zu berücksichtigen und freue mich auf eine baldige Stellungnahme.
Mit freundlichen Grüßen
Petra Nicolaisen
Bundestagsabgeordnete im WK 1 Flensburg-Schleswig
1 Protokoll der Überprüfungen im Rahmen der Freigabe zur Beseitigung gem. § 29 StrlSchV am Kernkraftwerk Obrigheim
2 Sh:z.de, 14. Oktober 2020
3 AW Schreiben an MdB Callsen vom 8. Oktober 2019 und AW Schreiben an MdB Nicolaisen vom 4. Oktober 2018
4 Schreiben von Prof. Dr. Montgomery vom 15. Dezember 2017